„Emotionale Kompetenz ist die Basis für alles“
Wie können Kinder, Eltern und Lehrkräfte mental gestärkt durchs Leben gehen? Katharina Rüd von Natürlich Stark teilt im Interview ihre persönlichen Erfahrungen und zeigt auf, wie wichtig ein ganzheitlicher Blick auf mentale Gesundheit ist. Mit inspirierenden Einblicken, praktischen Strategien und einer klaren Vision spricht sie über die Chancen von Neuroinklusion, die Bedeutung von Selbstfürsorge und warum das Bildungssystem dringend neue Wege braucht.
Katharina, wie bist du dazu gekommen, dich auf das Thema mentale Gesundheit im Familienkontext zu fokussieren?
Entstanden ist das aus persönlicher Betroffenheit heraus. Ich selbst war in meinem Job nicht glücklich und habe bemerkt, wie sich das auf meine Familie, besonders auf meine Kinder übertragen hat. Dazu habe ich Kinder mit besonderen Bedürfnissen, gesundheitlich und emotional, was mich zusätzlich sehr gefordert hat und bis heute fordert. Irgendwann habe ich mich gefragt, wie ich es schaffen kann daran nicht zu verzweifeln, habe Aus- und Weiterbildungen in Sachen Resilienz, Stressbewältigung, Mentaltraining und psychologischer Beratung gemacht und bemerkt welchen Mehrwert ich, aber auch meine Familie davon haben. Und so habe ich angefangen, über mich und meine Familie hinaus zu denken.
Du betrachtest mentale Gesundheit ganzheitlich. Was genau bedeutet das in der Praxis und wie setzt du diesen Ansatz in deiner Arbeit um?
Ich habe in der Vergangenheit überwiegend mit Kindern und Jugendlichen in Kitas, Schulen und Vereinen gearbeitet. Eine Arbeit, die sehr viel Spaß macht, aber verpufft bzw. meistens wenig nachhaltig ist, wenn die Erwachsenen, also die Lehrkräfte, Erzieher:Innen und Eltern nicht eingebunden sind. Mentale Gesundheit ist nichts, was man in einem Workshop anschaltet und dann einfach vorhanden ist, das Bewusstsein und Wissen darum muss aufgebaut werden und langsam wachsen. Dazu benötigt es ganze Systeme, wie eben das Bildungssystem und die Familie.
Im Idealfall erreicht meine Arbeit mit den Kindern auch die eingesetzten Pädagogen:Innen und Eltern über einen längeren Zeitraum. Eine Gruppe Schüler:Innen durfte ich beispielsweise über drei Jahre 1x pro Woche für 4-6 Stunden begleiten. Die Lehrkräfte waren in wechselnden Konstellationen dabei und haben auch den Kontakt zu den Eltern gehabt. Das Projekt war in meinen Augen sehr erfolgreich, denn die Schüler:Innen haben sich merkbar positiv entwickelt, was am Ende für alle Beteiligten eine Erfolgsgeschichte war.
Das lässt sich natürlich noch ausbauen durch Lehrerfortbildungen, Elternworkshops und den Schritt in Unternehmen. Die ganzheitliche Betrachtung heißt für mich auch, Eltern auch in ihrem (beruflichen) Umfeld an die Hand zu nehmen, sie ihn ihrer persönlichen Entwicklung zu stärken, damit es ihnen nicht so geht wie mir früher, dass sie den Frust von der Arbeit mit nach Hause nehmen und an den Kindern auslassen.
Mein Ziel ist es einfach, Menschen mental so zu stärken, dass sie selbstkompetent durchs Leben gehen und das an die nächste Generation weitergeben.
Wie können Eltern und Lehrkräfte konkret dazu beitragen, die sozial-emotionale Kompetenzentwicklung bei Kindern zu fördern?
Ganz viel lässt sich über Vertrauen, Akzeptanz und Kommunikation bewirken. Grundsätzlich ist eine offene, interessierte und wertschätzende Grundhaltung notwendig. Viel zu häufig gehen wir Erwachsene über Wünsche und Bedürfnisse von Kindern hinweg.
Ich meine damit nicht, dass wir alles erlauben sollten, das nicht. Wir sind immer noch die Menschen an denen sich die Kinder orientieren und dazu gehört es einen Rahmen abzustecken und Grenzen zu setzen, die sich an den Werten und Normen orientieren sollten die für meine Familie oder meine Schulgemeinschaft gelten. Aber innerhalb dieses Rahmens sollten wir den Kindern ihren Freiraum zur eigenen Entwicklung geben, sie ihre eigenen Erfahrungen machen lassen, sie anhören und ernst nehmen und sie auch auffangen, wenn sie vielleicht nicht so positive Erfahrungen machen. So haben Kinder die Möglichkeit Selbstwirksamkeit zu erfahren, ihre Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen aufzubauen.
Emotionale Kompetenz ist die Basis für alles. Hier ist es ist erst mal ganz wichtig, dass kein Gefühl falsch ist. Alle Gefühle haben ihre Berechtigung, wichtig ist jedoch, wie ich damit umgehe. Das bestimmt dann auch das soziale Miteinander. Diese Basis gilt es daheim zu schaffen, dazu muss man sich vorher mit seinen eigenen Emotionen und die Reaktionen darauf auseinandersetzen.
Das Thema Neuroinklusion und ADHS liegt dir besonders am Herzen. Welche Herausforderungen siehst du dabei für Familien und Schulen, und welche Lösungsansätze empfiehlst du?
Die Zahl der Diagnosen im Bereich der Neurodiversität steigt stetig. Dazu kommen immer mehr Menschen ohne Diagnose, die erkennen, dass sie irgendwie anders sind, anders denken, empfinden und wahrnehmen. Und das ist auch gut so, denn diese Vielfalt eröffnet viele Möglichkeiten. In der Natur stellt das niemand in Frage, ganz im Gegenteil Biodiversität wird noch gefördert. Ich kämpfe für mehr Neuroinklusion, damit neurodivergente Menschen mit all ihren Potentialen ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten können.
Ich habe selbst zwei Töchter mit ADHS. Für Familien ist das oft schon ein harter Weg, überhaupt eine Diagnose zu bekommen. Und dann ist man immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert, weil die wenigsten Menschen über ADHS und Co. wirklich informiert sind. Für Familien bedeutet eine Neurodiversität häufig eine enorme Mehrbelastung, weil die Kinder einfach anders ticken, mit allen negativen, aber auch positiven Aspekten.
Bei uns heißt es konkret, dass ich bei einer Tochter sehr viel mehr kommunizieren muss, Unsicherheiten im sozialen Miteinander, sehr starkes Emphatieempfinden und ein stark ausgeprägter Gerechtigkeitssinn fordern nach der Schule sehr viel Aufarbeitung. Mindestens eine Stunde am Tag geht bei mir für derartige Gespräche drauf, wenn es nicht zu einem kompletten Meltdown kommt.
Bei der anderen Tochter müssen wir Teile des Unterrichts daheim komplett neu aufbereiten, weil ihre Denkmuster nicht mit den Erklärungen der Lehrerin harmonieren. Dazu sind ihre Konzentrationsphasen verkürzt, so dass Teile des Unterrichts einfach an ihr vorbeigehen. Sie ist aber nicht dümmer als die anderen Kinder, ihr Gehirn strukturiert nur einfach anders, am Ende kommt sie zum gleichen Ergebnis. Das gilt es aufzufangen.
Ich habe die Möglichkeit das für meine Töchter zu leisten, in vielen Familien sieht das jedoch anders aus.
Schule könnte hier einen großen Beitrag leisten. Der erste Schritt wäre zu erkennen, dass Neurodiversität mehr ist als ein männlicher Zappelphilipp und ein verträumtes Mädchen. Das können Menschen mit einer Neurodivergenz häufig sogar ganz gut verbergen. Die Konsequenzen dieses Maskierens tragen dann die Familien daheim. Diese Kinder haben einfach einen anderen Bedarf an Lautstärke, Ansprache, Nähe und vieles anderes. Das kann bei jedem Kinder anders sein. Auf diesen Bedarf einzugehen ist in dem Schulsystem, wie wir es gerade haben, nicht so einfach, aber da bin ich der Meinung, wo ein Wille, ist auch ein Weg. Kleine Schritte können großes bewirken.
Ein pauschales Verbot von elektronischen Geräten auf Klassenfahrten sehe ich zum Beispiel sehr kritisch. Gerade Kinder mit ADHS müssen in solche Extremsituationen die Möglichkeit haben ihren Kopf auszuschalten, da können Musik oder Hörspiele helfen. Das sollten dann individuelle Entscheidungen sein und als medizinisch notwendige Maßnahme begriffen werden. Einem Kind mit Sehschwäche wird auch nicht das Tragen der Brille verboten, weil alle anderen keine Brille haben. Damit wären wir dann wieder bei dem Punkt der Akzeptanz der Andersartigkeit bzw. der Individualität.
Wie wichtig ist Selbstfürsorge für Eltern und Lehrkräfte im Kontext der mentalen Gesundheit, und welche Tipps hast du für den oft stressigen Alltag?
Selbstfürsorge ist ein ganz wichtiger Faktor. Nur wenn es den Eltern oder Lehrkräften gut geht, können sie auch gut für die Kinder und Lernenden da sein.
Mein Tipp ist ganz pauschal: Mut zur Lücke! Den Perfektionismus mal zur Seite schieben, hinterfragen was wirklich notwendig ist, Dinge delegieren oder auch einfach mal bleiben lassen. Wir dürfen im stressigen Alltag gerne mal auf uns selbst hören, auf unsere Wünsche und Bedürfnisse. Wenn wir uns und unsere Bedürfnisse respektieren wird sich das positiv auf unsere mentale Gesundheit im Alltag auswirken, denn in den meisten Fällen werden wir feststellen, dass sich die Welt weiter dreht und nichts passiert, wenn wir mal nicht perfekt funktionieren. Den Kindern fällt eher das entspanntere Verhalten positiv auf.
Gibt es spezifische Übungen oder Strategien, die Familien nutzen können, um ihre mentale Stärke gemeinsam zu stärken?
Auf jeden Fall. Als Strategie ist eine positive Grundstimmung mit dem Vertrauen ineinander, der Akzeptanz jedes Einzelnen so wie er ist und einer klaren Kommunikation hilfreich. Die Strategie könnte beispielsweise Wertschätzung heißen. Die Basis dafür sind die Eltern, die ihre Grundwerte kennen müssen und diese auch vorleben, damit sie den Kindern einen Orientierungspunkt bieten.
Von zwei ganz konkrete Übungen, die sich recht einfach in den Alltag integrieren lassen, haben die meisten Menschen vermutlich auch schon gehört:
1. Bewusst Zeit nehmen
Verbringen Sie bewusst Zeit mit der Familie. Reden Sie miteinander, zeigen Sie Interesse und lassen Sie sich nicht vom Handy o.ä. ablenken.
Machen Sie 1x pro Woche eine warme Familiendusche. Was mögen Sie an Ihrer Familie, an den einzelnen Familienmitgliedern. Wenn das Wort einmal die Runde macht hat jeder etwas Positives gehört, Wertschätzung erfahren und Rückhalt erhalten.
2. Sende ICH-Botschaften.
Bevor du schimpfst oder Kritik äußerst besinne dich darauf wie es dir mit der Situation geht. Damit kannst du u.a. Verständnis schaffen und Widerstand entgegenwirken. Ich fühle mich gerade überrumpelt…; deine Aussage macht mich traurig…; ich würde mir wünschen, dass….
Wie gehst du in deiner Arbeit mit Widerständen oder Vorbehalten gegenüber Themen wie sozial-emotionaler Kompetenz oder Neurodiversität um?
Die gibt es natürlich, gerade in Bezug auf Neurodiversität häufig. Ich versuche dem mit alltäglichen Beispielen zu begegnen und Verständnis zu schaffen. Ich habe es jedoch aufgegeben aktiv und mit Energie gegen diese Widerstände und Vorbehalte zu arbeiten, denn das macht es meisten nicht besser, sondern kostet nur Kraft. Häufig gehen die Widerstände mit einer gewissen Grundhaltung einher, die ich nicht ändern werde. Ich versuche dann eher mit konkreten Beispielen zum Nachdenken anzuregen. Da müssen meine Töchter sehr oft herhalten.
Was sind deiner Meinung nach die größten Hindernisse im aktuellen Bildungssystem, wenn es um die Förderung von mentaler Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen geht?
Das ist eine große Frage. Unser Bildungssystem ist, bei allen innovativen positiven Gegenbeispielen, die es gibt, auf Leistung ausgelegt und auf Homogenität. Es geht in Schule häufig darum Wissen zu vermitteln, das für unsere Kinder nie mehr von Bedeutung sein wird, weil es einfach nicht mehr ihrer Lebensrealität entspricht.
Individualität und persönliche Stärken spielen selten eine Rolle. Alle Kinder, so unterschiedlich sie sind, müssen die gleichen Prüfungen ablegen, um vergleichbar zu sein. Damit entsteht Druck bei Kindern und Jugendlichen, Eltern, Lehrkräften und ganzen Schulen und Druck ist nie gesund, nicht wenn er dauerhaft herrscht.
Dazu wird am Ende des Jahres ein subjektives Urteil über Kinder und Jugendliche in Form einer Ziffer gefällt, das in meinen Augen null Aussagekraft hat. Alles konzentriert sich auf diese Ziffer. Lernen und Hausaufgaben nehmen viel Zeit ein, Zeit, die für die wichtige Entwicklung von sozial-emotionalen Kompetenzen am Ende fehlt.
Ich könnte hierzu noch so viel mehr sagen. Die Frage ist, ob unsere Gesellschaft mit den Jugendlichen, die in dieser Form ausgebildet wurden, zukunftsfähig ist oder ob wir lauter ausgebrannten Burn-out Kandidaten in die Arbeitswelt entlassen, weil sie ihre Stärken nicht kennen und sich an Erwartungen anderer abarbeiten.
Wie unterscheidet sich deine Arbeit mit Erwachsenen im Berufsalltag von deiner Arbeit mit Kindern und Familien? Gibt es Gemeinsamkeiten?
Ich würde behaupten, dass die Gemeinsamkeiten größer sind als die Unterschiede. Mein zentrales Ziel ist die Selbstwirksamkeit und die Selbstreflektion. Um das zu erreichen arbeite ich immer mit einer Mischung aus Theorie und Praxis, wobei der Praxisanteil deutlich größer ist. Gerade bei meiner Arbeit mit Vereinen, in denen häufig sowohl Jugendliche wie auch Trainer, Übungsleiter und Eltern anwesend sind bemerke ich, dass die Erwachsenen auf die „Spiele“ genauso positive reagieren, wie die Jugendlichen. Der größte Unterschied ist vermutlich, dass ich mit Kinder hauptsächlich raus gehe und Ihnen sehr viel mehr Freiraum geben, sie können damit aber auch noch mehr anfangen als Erwachsene.
Grundsätzlich gestalte ich meine Angebote sehr individuell und flexibel, so dass ich im beruflichen Umfeld bei Bedarf auf die spielerischen Elemente auch verzichten kann, was bisher noch nicht vorgekommen ist.
Welche Vision hast du für die Zukunft, wenn es um mentale Gesundheit im Schul- und Familienkontext geht? Was müsste sich gesellschaftlich oder systemisch ändern, damit Familien und Schulen wirklich profitieren können?
Ich würde mir eine Zukunft wünschen in der jeder so akzeptiert wird wie er ist. Individuelle Stärken sollten stärker gesehen statt Homogenität geschaffen werden. Verständnis und Vertrauen sollten Misstrauen und Missgunst ablösen – Fokus auf das Positive statt auf das Negative. So meine Vision.
Dazu muss sich jedoch noch sehr viel ändern. Das Bildungssystem wie es jetzt ist, muss komplett reformiert werden. Weg von Schulnoten, lernen im Klassenverband in klassischen Klassenräumen, weg von den klassischen Stundenplänen hin zu flexiblen und individuellen Lösungen, mit viel Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit und Vertrauen.
Unsere Gesellschaft ist geprägt von Ängsten, durch sie werden viele Möglichkeiten nicht genutzt. Wir brauchen mehr Pioniergeist, Mut und damit einhergehend Hoffnung, um langsam eine Veränderung herbeizuführen.
Unser Bildungssystem und auch unsere Gesellschaft müssen Kreativität, kritisches Denken und Machermentalität fördern statt kritisch zu beäugen. Neue Ansätze sollten mehr Unterstützung statt Ablehnung erfahren. Denn wenn wir ehrlich sind brauchen wir diese neuen Ideen und Entwicklung, um nicht im Stillstand zu enden. Und dazu kann Neurodiversität maßgeblich beitragen.