DigiPro21: „Digitalisierung ist kein Selbstzweck“
Für viele Bildungsakteur:innen weckt die rasante Digitalisierung zwar einige Hoffnungen auf moderne Schulgestaltung. Gleichzeitig gibt es aber viele Fragezeichen, wie man mit den neuen Entwicklungen gut Schritt halten kann. DigiPro21 begleitet Schulen und Lehrkräfte bei der digitalen Transformation und setzt dabei auf langfristige und praxisnahe Unterstützung. Co-Gründer Alexander Ludwig berichtet im Interview von den Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung im Bildungsbereich. Dabei betont er, dass es nicht allein um technische Lösungen geht, sondern um die Frage, wie gute Lernprozesse gestaltet und Kollegien in ihrer Arbeit gestärkt werden können. Der Ansatz: Digitale Kompetenz mit einer ganzheitlichen Perspektive auf Bildung verbinden.
Kannst du uns kurz erzählen, wie DigiPro21 entstanden ist und welche Vision hinter dem Projekt steht?
Meine Partnerin Kristin und ich haben uns immer gerne in Schulentwicklung engagiert. Oft waren wir diejenigen, deren Hände auf den Konferenzen nach oben gingen, wenn es um Arbeitsgruppen ging. Wir sind beide zukunftsorientierte, kritisch-konstruktive Denker mit einer hohen Vorstellungskraft. Deshalb hat es uns immer besondere Freude gemacht, Bestehendes zu hinterfragen und Neues zu entwickeln.
In Coronazeiten haben wir an einer deutschen Auslandsschule gearbeitet und die Umstellung von „überhaupt nicht digital” zu „komplett digital” musste innerhalb von 14 Tagen bewältigt werden. Als Auslandsschule ging es damals um die Existenz, denn es drohte die Nicht-Anerkennung des Abiturs, falls der Unterricht nicht innerhalb von 14 Tagen vollständig digital abgebildet werden könnte.
Deshalb waren wir unter Zugzwang und haben so schnell digitalisiert, wie es nur ging. Man kann sich vorstellen, dass die Konzeptarbeit und eine partizipativ entwickelte Vision dabei etwas auf der Strecke geblieben sind. Anschließend konnten wir die Zeit dann nicht mehr zurückdrehen und haben ein paar Stellschrauben verpasst, die wir in der Entwicklung anders angegangen wären, wenn die Zeit gewesen wäre. Im Nachhinein waren die Strukturen dann bereits so eingeschleift, dass wir es intern nicht mehr aus eigener Kraft geschafft haben, eine (neue) gemeinsame digitale Vision zu entwickeln.
Der Moment, als uns das klar wurde, dass wir trotz aller Kompetenz im Team an diesem Punkt nicht mehr ohne externe Begleitung weiterkommen würden, war ein zentraler Punkt in der Entscheidung: Das wollen wir hauptberuflich machen!
Wir wollen unsere Erfahrungen und unsere Leidenschaft für zukunftsfähiges Lernen und Digital Leadership an andere Schulen und Kollegien weitergeben, um sie dabei zu unterstützen, bessere (und für sie passende) Entscheidungen zu treffen, als wir es damals tun konnten. Wir wollen unseren Beitrag zu einer nachhaltigen Transformation leisten – für mehr Resilienz der Institution und ihrer Mitarbeiter:innen, mehr Selbstwirksamkeit und Positivität sowie mehr Verbundenheit im Schulalltag.
DigiPro21 steht für Digital Proficiency of the 21st century.
Digitale Kompetenz geht dabei für uns weit über die Nutzung digitaler Tools hinaus und beinhaltet, neben der anwendungsbezogenen, sowohl die menschliche als auch die gesellschaftliche Perspektive.
Welche Herausforderungen sehr ihr aktuell im Bereich der Digitalisierung von Bildung und wie geht DigiPro21 damit um?
Momentan liegt der schulische Fokus oft noch sehr auf tradierten Vorstellungen von „Unterricht”. Das Wort „Unterricht” alleine ist bereits so aus der Zeit gefallen, dass ein Überdenken der kommunikativen Verwendung angebracht wäre. Am Ende des Tages geht es in Schule um gute Bildung und die passiert in den Köpfen der Schüler:innen. Deshalb sollten wir effektive Lernprozesse in den Vordergrund stellen.
In Deutschland befinden wir uns derzeit noch überwiegend auf der Evolutionsstufe der Digitalisierung, in der analoge Prozesse digitalisiert werden. Über diese Stufe müssen alle gehen, die sich mit der Digitalisierung auseinandersetzen; wichtig ist aber, was danach kommt. Ansonsten hätte man einfach die früheren „Lehrprozesse” in digitale Settings überführt und würde nun, anstatt auf eine Tafel, auf ein digitales „smartes” Board schreiben.
Digitale Didaktik muss weitergehen. Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit. Das Auto ist konstruiert, die Reifen sind angebracht, jetzt können wir erst losfahren. Die Digitalisierung hat Möglichkeitsräume geöffnet, in denen Lehrkräfte nun kreativ aktiv werden können, sollen und müssen. Dabei brauchen sie Unterstützung, um folgende Fragen beantworten zu können:
- Was ist eigentlich „gutes” digitales Lernen? Welche Kriterien / Indikatoren gibt es dafür?
- Wie „digital” ist mein Unterricht eigentlich wirklich? Bin ich digital, wenn ich freitags ein Kahoot! einsetze?
- Wie gehen wir als Kollegien mit digitalen Veränderungen um? KI ist derzeit in aller Munde, aber was wird das nächste große „Ding“ sein und wie wird es uns betreffen und wie reagieren wir darauf?
Dabei unterstützen wir mit DigiPro21. Uns ist es besonders wichtig, dass Kollegien Unsicherheiten und Vorbehalte abbauen und kritisch-konstruktiv mit digitalen Veränderungen umgehen lernen.
Damit dies nachhaltig gelingen kann, ist die Haltung genauso entscheidend wie funktionierende Teams, inner- und außerschulische Vernetzung und eine partizipative Schul(entwicklungs)kultur.
Die größte Herausforderung für uns ist es derzeit, sichtbar(er) zu werden und Schulen sowie Schulträger von der Qualität unseres Angebots zu überzeugen, damit wir unsere Expertise auch einbringen können.
Häufig soll vieles „intern” gelöst werden, z.B. über Abordnungen von Lehrkräften, die dann in Teilzeit auch als Fortbildner:innen tätig sind. Das ist auch soweit legitim und sinnvoll, der Bedarf überfordert aber derzeit bei weitem die vorherrschenden Kapazitäten.
Für uns stehen daher die Vernetzung und die Transparenz gegenüber Schulen und Schulträgern an erster Stelle.
Wie unterstützt ihr Lehrkräfte konkret dabei, sich sicher und effizient in der digitalen Welt zurechtzufinden?
Wir nähern uns Schule aus einer Leadership-Perspektive. Lehrkräfte sind für uns Führungskräfte, die jeden Tag für den Bildungserfolg hunderter junger Menschen mitverantwortlich sind. Deshalb möchten wir Lehrkräften auch wie Führungskräften begegnen und ihre Leadership-Kompetenzen weiter ausbauen. Denn bedeutungsvolle Partizipation und Mitgestaltung, in diesem Fall auf mittlerer Ebene, sind in unserem Verständnis der beste Weg für eine nachhaltige Transformation.
Nach unserem Verständnis beginnen nachhaltige Veränderungen immer im Kleinen und manifestieren sich über Kontinuität. Deshalb setzen wir auf eine langfristige kontinuierliche Begleitung der Menschen, die vor Ort mit Veränderung umgehen.
Zentral ist für uns auch, eine individuelle Begleitung anzubieten, die sich an den Bedarfen und Bedürfnissen vor Ort orientiert. Jede Schule, jedes Kollegium, jede Schülerschaft ist anders. Die beteiligten Menschen sollen im Mittelpunkt stehen. Daher setzen wir auf eine individuelle Visionsentwicklung, Zieldefinition und Festlegung von Maßnahmen vor Ort.
Inwiefern hilft DigiPro21 dabei, auch Schüler:innen direkt von der Digitalisierung profitieren zu lassen?
Lehrer:innen sind Führungskräfte für ihre Schüler:innen. Von Führungskräften wird erwartet, dass sie Sicherheit bieten, vor allem durch Verlässlichkeit, Transparenz und das Ausüben einer Vorbildfunktion. Lehrkräfte, die wir als digitale Leader stärken, entdecken diese Qualitäten in sich in Hinblick auf die digitale Transformation und können diese wiederum an ihre Schüler:innen weitergeben. Hattie beschreibt in seinen Studien bereits seit Jahren: Die Lehrer:innen-Persönlichkeit ist (neben der sozioökonomischen Stellung) hauptverantwortlich für Bildungserfolg in Deutschland. Das heißt, dass gute Lehrkräfte (im Sinne guter Führungskräfte) in der Lage sind, mit Schüler:innen stärkenorientiert zu arbeiten und ihnen genau diese o.g. Sicherheiten zu bieten und darüber hinaus meist ein persönliches Identifikationsangebot zu machen. Gute „Lehrkräfte” (sofern wir das Wort noch benutzen wollen) sind gute Führungskräfte.
Die Technik entwickelt sich ständig weiter. Nach welchen Kriterien wählt ihr Technologien oder Tools für euer Portfolio aus?
Wir werden häufig gefragt: „Welche Tools würdet ihr einsetzen, um Unterricht digitaler zu machen?” – unsere Antwort ist immer: „Nicht die Tools sollten im Mittelpunkt stehen, sondern didaktische Überlegungen: Wohin möchte ich? Wie kann ich das erreichen? Was hilft mir dabei, die Kriterien guten digitalen Unterrichts zu erfüllen?”
Uns ist wichtig, dass Kollegien „ins Handeln” kommen, experimentieren und ausprobieren (können), aber dann auch hart evaluieren: Ein Tool ist nur so gut, wie sein Einsatzzweck und der Einsetzende.
Für die generelle digitale Ausstattung von Schulen steht bei uns das Prinzip „Universalität” vor „Spezifität”: Im Allgemeinen lieber auf stabile und universelle Lösungen, statt auf sehr spezifische Tools oder Geräte setzen. Der Nutzungsstandard innerhalb der Organisation sollte so niedrigschwellig und klar wie möglich sein.
Darüber hinaus sollten sich Fortbildungen unserer Meinung nach nicht damit beschäftigen, welche spezifischen Apps und Tools es gibt und wie man eine Einsatzmöglichkeit (er)finden kann, sondern man sollte die Kriterien „guten” digitalen Lernens ins Zentrum der eigenen Planungen stellen und dann überlegen: „Welche Tools (=Werkzeuge) brauche ich dafür?” Ein Vorschlaghammer beim Uhrmacher hat wahrscheinlich wenig Verwendung, egal, wie lange man danach sucht.
Digitalisierung im Bildungssektor bringt oft Datenschutzfragen mit sich. Wie sorgt DigiPro21 für Sicherheit und Transparenz in diesem sensiblen Bereich?
Wir arbeiten DSGVO-konform und setzen auf DSGVO-konforme Tools zur Arbeit mit unseren Kund:innen (Collaboard, Taskcards).
Darüber hinaus sensibilisieren wir natürlich für den Datenschutz, vor allem in Hinblick auf disruptive Technologien wie den Einsatz von KI. In diesem Bereich gibt es bereits gute Lösungen für die Schule, die auch vollständig DSGVO-konform einsetzbar sind.
Mit wem arbeitet ihr bisher zusammen? Kannst du uns einen Einblick geben?
Grundsätzlich bieten wir verschiedene Lösungen an, vom einzelnen Workshop über pädagogische Tage bis hin zu Schuljahresbegleitungen.
Wir setzen aber vor allem auf mehrmonatige Prozessbegleitungen, denn erfolgreiche Veränderungen brauchen Zeit und den Raum für Erfahrungen, Austausch und Wachstum.
Derzeit arbeiten wir z. B. mit einer großen Gesamtschule (140 Lehrer:innen) im Ruhrgebiet, die wir ein Schuljahr lang begleiten. Dort liegt der Fokus auf der Unterstützung der Arbeitsgruppe „Digitales” als digitale Leader: Wir begleiten die acht Mitglieder der Gruppe dabei, zusammenzuwachsen, effektiv als Team zu arbeiten und digitale Veränderungsprozesse in der Schule gezielt anzustoßen und „am Leben zu halten”.
Dazu unterstützen wir bei der Team- und Visionsentwicklung und greifen auf Elemente aus dem Design Thinking und dem Führungskräfte-Coaching zurück. Hauptziel ist es, den individuellen Herausforderungen vor Ort im Rahmen der Digitalisierung ganzheitlich zu begegnen, um Lernen und Arbeiten zeitgemäßer zu gestalten.
Wo siehst du DigiPro21 in fünf Jahren, und welche Trends in der Bildungstechnologie glaubst du, werden die Zukunft prägen?
Wir sehen uns als etablierten Anbieter von hochwertigen Begleitungsangeboten für Schulen, die eine enge, wissenschaftlich fundierte und menschenorientierte Transformationsbegleitung mit Expertise und Praxiserfahrung aus dem Lehramt schätzen.
Es wird immer wieder neue digitale Trends geben, im Großen und Ganzen wird aber das Menschliche wieder stärker in den Fokus rücken. Es wird zum Beispiel immer klarer, was KI kann, es wird aber auch immer klarer, was sie nicht kann.
Menschliche Interaktion, individuelle Betreuung, echtes Lernen und persönliches Wachstum gelingt nicht nur durch den Einsatz neuer Technologie wie KI, sondern durch die Interaktion mit Menschen, die diese gezielt einsetzen und für sich und andere nutzbar machen können. Dabei unterstützen wir.
Was treibt dich persönlich an, dich so intensiv mit digitaler Bildung zu beschäftigen, und was gibt dir in deiner Arbeit den meisten Rückenwind?
Wir haben selbst mehrere Jahre lang in Lehrer:innenzimmern erlebt, was Negativität, Überforderung, Unsicherheit und Frustration anrichten können, wenn in Hinblick auf die Arbeits- und Lernkultur und die Haltung „falsch abgebogen” wird. Solche selbstverstärkenden Dynamiken müssen dringend vermieden oder aufgebrochen werden, um jedem und jeder ein positives Arbeits- und Lernerlebnis zu ermöglichen.
Jede:r hat in unserer Gesellschaft das Recht auf ein stärkenorientiertes Lernen und Arbeiten mit einer positiven Grundhaltung. Nur dieser Optimismus, gepaart mit den unglaublichen gesellschaftlichen Ressourcen, kann Deutschland wieder zu einem Spitzenreiter in qualitativer Bildung machen. Die Voraussetzungen haben wir, jetzt geht es an die Umsetzung. Dieser Gedanke treibt uns jeden Tag an. Let’s go!